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Manifestierter Grössenwahn.

Montag, 29. Mai 2017 | Dénia

Nach Benidorm wollte ich, weil mir die Stadt schon auf der Fahrt vom Flughafen nach Dénia auffiel. Dass sich dort der Gipfel des leerstehenden Wohnraumwahnsinns befindet, wusste ich zu dem Zeitpunkt noch nicht. Ich war fasziniert von den vielen Hochhäusern, die so nah am Meer gebaut wurden, insbesondere von diesem einen, das ausschaut, wie eine riesige Filterkaffeemaschine. Das wollte ich mir am Wochenende von Nahem anschauen.

In Benidorm angekommen, fuhr ich, wie immer, wenn ich einen Ort am Meer besuche, zuerst zum Strand. Ungewohnt und eindrücklich, die Fahrt zwischen den hohen Gebäuden. Etwa 200 Meter vom Strand entfernt parkiere ich und gehe zu Fuss weiter. Auf den ersten paar Metern an der Promenade kommt mir eine Gruppe betrunkener Engländer entgegen. Einer röter als der Andere – und damit meine ich nicht die Haarfarbe. Wie betrunken kann man eigentlich sein, nachmittags um vier? Amüsiert und nichtsahnend spaziere ich weiter, bis ich merke, dass das keine Ausnahme war. Je weiter ich gehe, desto lauter und wilder wird’s. Hätte ich mich besser mal vorab informiert über Benidorm. Ich suche mir ein Café, aus dem keine Technomusik dröhnt, bestelle mir einen Cortado und google los. Na bravo! Die Stadt von der ich mir architektonische Innovationen, zeitgenössische Kultur und Musik erhofft hatte, scheint eine einzige Katastrophe zu sein. Ein ehemals idyllisches Fischerdorf, dem Tourismus geopfert. Feiernde Engländer und deutsche Rentner bevölkern die Betonwüste und der Gipfel, «Intempo», das erwähnte Hochhaus, steht leer?! 2500 Tonnen Stahl, 29’000 Kubikmeter Beton, 192 Meter hoch, 47 Stockwerke, 269 Wohnungen, leeeeeer! Das zumindest gemäss Wikipedia-Eintrag (lesenswert, weil unglaublich) vom Dezember 2016. Aktuelleres finde ich nicht. Ich muss mir also selbst ein Bild von dem Gebäude machen. Benidorm kommt mir vor wie ein Unfall. Ich möchte nicht hinschauen, kann es aber irgendwie doch nicht lassen. Nicht nur, was die Stadtplanung und Architektur betrifft, sondern vor allem auch die «Bevölkerung». Ich war noch nie am Ballermann und kenne solche Szenen bislang nur aus dem Fernsehen, weshalb ich mich mit anhaltender Verwunderung zu Fuss, rund 3 Kilometer am eben beschriebenen Strand entlang, auf den Weg mache. Glücklicherweise wird es ruhiger, je weiter ich gehe. Kaum vorzustellen, wie es hier in der Hochsaison abgeht. Während die Einwohnerzahl Benidorms auf 100’000 geschätzt wird, überschreitet die Zahl der Bewohner in der Urlaubszeit laut Wikipedia die Grenze von eineinhalb Millionen. Da verschwindet der Sandstrand unter den Fleischmassen und der Duft von Sangria und Sonnencreme mischt sich, wobei der Sangria definitiv mehr durchdringt.

Intempo scheint direkt am Strand zu stehen. Scheint. Die Grösse des Wolkenkratzers täuscht und so habe ich dann doch noch einige hundert Meter vom Strand weg vor mir, bis ich wirklich davor stehe. Die letzten Meter gehe ich durch hohes Gras und Schutt, bis ich etwa 50 Meter vom Koloss entfernt, vor einem Gitter halt machen muss. Bewohnt sind die goldenen Türme definitiv nicht. Viel hätte aber wohl nicht gefehlt. Der Eindruck vor Ort bestätigt, was ich gelesen hab. Es wurden zu wenige Wohnungen verkauft und den Investoren ging das Geld aus, noch bevor jemand einziehen konnte. Mitschuld ist wohl auch die schlechte Presse, die der Turm während des Bau’s erfahren musste. Medien weltweit behaupteten 2013, ausgehend von einem Beitrag eines Blogs, dass der Fahrstuhl nur bis zum 20. Stockwerk reiche und die weiteren 27 Stockwerke nur über eine Treppe erreichbar seien, weil der Lift vergessen wurde. In einem Hochhaus den Lift vergessen? So blöd kann niemand sein. Noch bevor aber jemand die Falschmeldung dementieren konnte, wurde sie von zahlreichen, auch namhaften Medien, um die Welt getragen. Hinterfragen die denn gar nichts? Wie auch immer. Wäre mit dem Bau alles in Ordnung gewesen, hätte sich so eine Geschichte doch irgendwie drehen und nutzen lassen müssen, um auch noch die letzten Wohnungen verkaufen zu können. Für mich schaut es heute nicht so aus, als würden die Türme je noch bewohnt werden. Stattdessen werden unmittelbar davor zwei neue Türme gebaut, die den imaginären Bewohnern von Intempo die Sicht aufs Meer stehlen (siehe Video). Damit verliert Intempo jede Hoffnung auf das höchste Wohngebäude Europas und muss sich wohl mit dem unnützen Titel «höchstes leerstehendes Gebäude» begnügen.

Das zweithöchste Gebäude in Benidorm ist das Grand Hotel Bali, mit einem öffentlichen Rooftop. Das muss ich mir noch ansehen und dann aber schnell weg hier. Ein weiteres Mal lasse ich mich von der Höhe eines Gebäudes und der Distanz dorthin täuschen. Ich laufe also weitere 1.5 Kilometer der Strasse entlang, an der prallen Sonne auf den Wolkenkratzer zu. Im Hotel Bali angekommen, verwundere ich mich, dass beim Lift zum Dach, der an der Aussenfassade in den 43. Stock hochfährt, niemand ansteht. Oben angekommen, stehe ich in einem leeren Raum mit einem Empfangsdesk, der nicht bedient ist. Öhm. Hola? Da ist niemand und auch die Türen, lassen sich nicht öffnen. Dieses Rooftop scheint hier niemand ausser mir zu interessieren. Hat schliesslich keine Bar da oben, denke ich. Ich winke in die Überwachungskamera, warte und versuche unterdessen ein Foto aus dem Kippfenster vom Treppenhaus zu machen. Nach ein paar Minuten kommt dann tatsächlich noch eine Empfangsdame, die mir 6 Euro abknöpft und mir die Tür zu einem weiteren Stockwerk öffnet. Für den Rest lasse ich Fotos sprechen. Irgendwie surreal mit diesen überzeichneten Farben aber passend, find ich.

verfasst von Albi Christen