Zuhause im Geisterdorf


Falls du beim Lesen das gleiche Feeling willst, wie ich beim Schreiben, dieser Journalbeitrag ist mit folgendem Lied in meinen Ohren entstanden: Chan Chan – von Abdoulaye Diabaté und Moussa Cissokho.
Es ist Sonntagmittag
Meinen vom Flug malträtierten Rollkoffer schleppe ich bereits zum vierten Mal eine viel zu steile Treppe hinunter, nur um ihn dann ein paar Graffitiwände später wieder eine viel zu steile Treppe raufzutragen. Funktionierende Lifte? Fehlanzeige. Rolltreppen? Haha, you wish!
Meine zweite Rauszeit startet wie die erste: Mit Blasen an den Handflächen und dem Verlangen nach einer Cola Zero zur Besänftigung meiner nach Erfrischung dürstenden Seele. Nächstes Mal packe ich leichter, ganz bestimmt, schwöre ich mir und ziehe meinen Koffer die leere Strandpromenade entlang zu meinem Coliving in Caldes d’Estrac. Hier werde ich also die nächsten Wochen remote für die Agentur arbeiten, mich in neue Perspektiven kleiden und aus der Komfortzone wagen. Ich bleibe stehen, schaue aufs Meer hinaus und lasse einen hörbaren Seufzer los – ach, wie schön, zurück in Spanien zu sein.
Es ist Montagmorgen
Mit Ächzen und Stöhnen erhebt sich Gau aus ihrem Bett und schleift sich mit leicht sabbernden Mundwinkeln Richtung Balkon. Die kühle Morgenbrise macht der gefühlt 100-jährigen Hundedame deutlich weniger aus als Pablo, der mit seiner knallroten Daunenjacke eingekuschelt neben mir am Tisch sitzt und um 9 Uhr ein Pilzrisotto in sich hineinschaufelt. «Todavía no he podido desayunar», erklärt er mir lächelnd sein ungewöhnliches Frühstück und hechtet sich mit einem lauten «Holaaaa, que tal?», bereits quietschfidel in den nächsten Call.
Ich lasse Risotto Risotto sein und pflanze mich für das wöchentliche Team-Meeting nach draussen auf die Terrasse. Der Blick fällt auf das ausladend blaue, glitzernde Meer. Hinter dem Haus rasselt der Regio-Zug mit quietschendem Fahrwerk gefühlt durch den noch halbleeren Coworking-Space. Die aufgehende September-Sonne drückt sich vorsichtig warm an die saftigen Palmen in unserem Garten und an mein Gesicht, das jetzt den anderen Cloulis im Zoom-Meeting schelmisch entgegenstrahlt. Ja, ich sitze hier im T-Shirt. Nein, ich möchte nicht mit euch tauschen.
Es ist Dienstagmorgen
In Caldetes, wie Caldes d’Estrac auch genannt wird leben rund 3’000 Menschen. Die Mensch-Hund-Ratio beträgt dabei wie auf der restlichen iberischen Halbinsel 2:1 – mindestens. Bis jetzt sind mir rund sieben begegnet. Vier- wie Zweibeiner. Dass in der Offseason hier nichts los ist, wäre untertrieben. Darum beschliesse ich heute dieses Geisterdorf an der Costa del Maresme hinter mir zu lassen und meine Kamera in der Pickpocket-Weltmetropole Barcelona Gassi zu führen.






Auf Google Maps habe ich mir die heissen Eisen der katalanischen Sehenswürdigkeiten abgespeichert: Park Güell, Casa Batlló, La Pedrera und der Albtraum aller Bauherr:innen – La Sagrada Família. Noch immer im Bau (duh), aber nicht weniger beliebt, darf ich das Meisterwerk des spanischen Architekten Antoni Gaudí leider nur von aussen bewundern. Sind die Tickets für die höchste Kirche der Welt doch bereits drei Wochen im Voraus ausverkauft.
Fun Fact: Nach rund 140 Jahren Bauzeit sollte die Sagrada Família am 10. Juni 2026, Gaudís hundertstem Todestag, fertig gestellt werden. Der Arme wurde auf dem Weg zum Abendgebet von einer Strassenbahn überrollt und verstarb im Armenspital, da man ihn aufgrund seiner schäbigen Kleidung und fehlender Papiere für einen Obdachlosen hielt.
Spoiler: Wann die Kirche tatsächlich fertig wird, scheint irgendwie niemand so richtig zu wissen. Ich lasse meine Augen über das zu drei Viertel fertige Meisterwerk schweifen und seufze heiter – ach, wie schön, zurück in Spanien zu sein.
Es ist noch immer Dienstag
Wie so vieles hier in Katalonien heisst natürlich auch die Hauptstadt nicht einfach «Barcelona», sondern wird von den Einheimischen kurz «Barna» genannt. Erwähnte Einheimische laufen zu meinem Erstaunen auch nicht mit geladenen Wasserpistolen durch die Strassen und werfen in ihrer Freizeit auch keine Leuchtfakeln in Hosteleingänge. Dachte ich mir schon, aber gut bin ich selbst nachschauen gegangen.
Und dann sehe ich sie. Behangen wie Christbäume schlurfen sie mit Kamera, Schlüsselanhänger und buntem Audioguide um den Hals an meinem Mittagstisch vorbei: die Kreuzfahrt-Armada. Als bei der zweiten Croqueta bereits die dritte Gruppe gurrend am Horizont auftaucht und dem semimotivierten Guide folgt, der heute auch schon zum zweiten Mal seine Berufswahl hinterfragt, wird mir klar – Barcelona ächzt in der Hauptsaison wirklich unter der Touristenmasse. Sicherlich ein Grund warum die Katalan:innen manchmal etwas gereizt bis arrogant wirken können. Die geografische Nähe zu Frankreich hilft da wohl auch nicht.
Apropos Frankreich: Wer Französisch spricht, ist in Katalonien im Vorteil. Das «Catalan» hat sich den einen oder anderen Ausdruck vom Französischen abgeguckt. So heisst «por favor» auf Katalanisch zum Beispiel «si us plau». Na, kommt’s euch bekannt vor?
Es ist Mittwochmorgen
Pablo schaufelt sein Risotto heute etwas später in seinen Rachen. Auch vom deutschen Pärchen, mit dem ich mir jeweils meinen Tisch im «Beach-Room» teile, fehlt jede Spur. Der grosse Coworking-Bereich im ersten Stock des «Kalima Beachside Coliving | Coworking» ist an diesem Mittwochmorgen wie leergefegt.
«Was ist denn ein Coliving», mögt ihr euch vielleicht fragen. Für alle, die meine letztjährige Rauszeit in Valencia nicht mitgeschnitten haben, let me explain: Coliving ist eine moderne Form des Zusammenlebens. Während wir alle unsere eigenen Zimmer mit privatem Badezimmer haben, teilen wir uns die Gemeinschaftsräume wie Küche, Wohnzimmer, Garten und Coworking. Also kein partyversifftes Hostel, weil alle berufstätig und Ü28. Eher eine grosse WG, die im gleichen Haus lebt und arbeitet.







Es ist Mittwochabend
Nach einer Pilatesstunde bei Daniela, die mir mit ihrem argentinischen Spanisch eine weitere spanische Dialektvarietät in den Kopf massiert, stehe ich vor meinem Endgegner: dem Gasherd in der Küche. Ich bin überzeugt, dieses Teil wurde von Satan persönlich gefertigt. Um ein Augenbrauenhaar hätte ich mir bei meinen ersten Kochversuch die dunkle Lockenpracht vom Kopf gebrutzelt. Vier Tage später kann ich das Gerät aus der Hölle zwar anstellen, aber immer noch nicht bedienen. So gesellt sich für diese Rauszeit neben den herkömmlichen Geschmacksrichtungen süss, salzig, sauer, bitter und umami nun auch «an- bis verkohlt» dazu.
Es ist Donnerstag
Ich stibitze einen Keks aus dem Coliving-Café, fülle mein Glas mit Zitronen-Gurkenwasser und gurke zurück an meinen Arbeitsplatz. Das Tolle an Kalima? Neben der unglaublich netten Besitzerin Vanessa, der tollen Community-Managerin Sary, dem wöchentlichen «Lunch & Learn» und den «Community Dinners» – undiskutierbar die Lage. Unser Coliving befindet sich nur sieben Sekunden vom rauschenden Meer entfernt. So setze ich mich am Morgen zum Journalen jeweils an den weichen Sandstrand, werfe mich am Mittag ins türkisfarbene Meer oder mache ein Work-out auf der leeren, von Tourist:innen zurückgelassenen Restaurantterrasse gegenüber.
Es ist Freitag
Ich versuche, die Laute der Marktfrau mit meinem Mund nachzuahmen, doch es gelingt mir nicht. Warum kann Süsskartoffel auf Katalanisch nicht auch einfach «Batata» heissen? Nach einem Crashkurs in katalanischem Gemüse und Obst laufe ich als happy Pony mit meinem Jutebeutel voller frischer Zucchetti, Peperoni, Pfirsiche und Feigen nach Hause. Den Namen für Süsskartoffeln habe ich mit dem ersten Biss in die saftige Feige bereits wieder vergessen.
Es ist Woche zwei
Wir spulen vor: Die Zeit rast, während sie im Geisterdorf nur halb so schnell zu verfliegen scheint. Wir verabschieden Colivers und begrüssen neue. Die Tage füllen sich mit Beach-Days und Gasherd-verbrannten Abendessen, meine Beine mit Mückenstichen. Ich gebe ein «Lunch & Learn» zum Thema Fotografie und bearbeite Bilder in meinem 7m2-Refugium im dritten Stock. Die Sonne scheint, ich schwitze glücklich. Täglich ruft die Arbeit, dann geht der Supermond zwischen pinken Wolken auf und wir feiern eine Vollmond-Kakao-Zeremonie am Strand. Dazwischen regnet es ein paar Mal und ich wasche Wäsche. Nicht gleichzeitig natürlich.
Es ist Donnerstagnachmittag
Ich sitze in der Sonne und geniesse die letzten Sonnenstrahlen, bevor ich übermorgen Richtung Unwetter und Richtung Valencia weiterreise. Neben meinem Laptop mit dem geöffneten Journalbeitrag steht eine Cola Zero, die ich mir am Tag meiner Ankunft im 24/7 Condis gegönnt habe. Ich nehme einen grossen Schluck und schaue aufs Meer hinaus – ach, wie schön, zurück in Spanien zu sein.
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