Khachapuri, Kaukasus und Chaos


Tiflis also.
Kein Zufall, aber auch keine lange Planung. Gewohnt last minute entschied ich, meine diesjährige Rauszeit in Georgien zu verbringen. MacBook im Rucksack vorne und Wanderschuhe, angeschnürt am Rucksack hinten, enterte ich mit Doublepack die Hauptstadt zwischen Europa und Asien. Eigentlich wollte ich die neuen Wanderschuhe noch während des Fluges anziehen, um sie (ebenfalls last minute) «einzulaufen». Na ja, Selbstachtung beim Check-in siegte dann doch vor der hoffnungslosen Blasenprävention.
Tiflis also.
Diese Stadt hat keine Lust, irgendwem zu gefallen. Es riecht nach Abgas (gar Schwefel?), die Strassen sind steil, der Pflasterstein unvollständig, und die Häuser lehnen sich aneinander, als hätten sie den Hang satt. Manche sehen aus, als hätten sie den nächsten Winter nicht mehr fest eingeplant, andere sind wiederum frisch verglast und nennen sich jetzt Loft. Die steilen Gassen von Old Tbilisi teile ich hier mit nach Impfstatus markierten Hunden, Sowjet-Omis mit streng zugeknotetem Kopftuch und in Schwarz gekleideten Raver:innen – ebenfalls mit einem Kopftuch, nur etwas hipstriger. Zu Recht wird Tiflis als das neue Berlin bezeichnet – und das beyond Techno und Hipstertum.
Mein Arbeitsweg in Vake ist vollgesprüht mit Tags in georgischer Schrift: Mkhedruli – dem Chrüsimüsi, das mich ein wenig an noch harte Noodle-Soup-Nudeln erinnert und als Graffiti- und Typo-Nerd etwas überfordert. Daneben sympathische Parolen wie «F*** Russia». Seit Putins Angriffskrieg koexistieren in «Little Moscow» Tausende Ukrainer:innen und Russ:innen, geflüchtet vor Krieg oder Wehrpflicht. Wer willkommen ist, merkt man an jeder Ecke. Es ist schwer, einen Sowjetbau ohne anti-russische Parolen oder ohne Ukraine-Flagge zu finden. Blau-Gelb ist hier allgegenwärtig – und wenn nicht als mit Fatcap gesprühte horizontale Streifen, dann als EU-Flagge.







Daily Grind aus der ehemaligen sowjetischen Druckerei
Mit dem Coworking liess ich mich diese Rauszeit nicht lumpen. Ich gönnte mir einen Flex Desk im DBlock Workspace @ Stamba. In diesem Gebäude wurde früher Georgiens erste kommunistische Zeitung gedruckt. Der Hängeförderer schlängelt sich immer noch über die Decke der ultra-stylischen Industrie-Lobby. Der Brutalismus-Block ist so insta-approved, dass morgens schon Touris im Eingang posieren – kurzer Anstands-Stopp, dann aber voll durchs Selfie huschend, steppte ich jeden Morgen ins Coworking. Wenn noch frei, setzte ich mich direkt unter die Lady mit sechs Fingern und der Gun in der Hand – Prr Prr!
Meine Office-Gspändli hier waren Designer, andere Kreative und Tech-Bros – plus die üblichen Big-Corporate-Flüchtenden, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, mit geöffnetem Teams in Calls rumzulungern und möglichst tief in den Designer-Couch zu versinken, ohne dabei ihren Flat White auszuleeren.
Auch nach Feierabend war hier was los: Der Innenhof war zugleich ein Amphitheater mit überwucherndem Strommast als Kulisse, der wiederum vom pinken Licht der Vertical Farm beleuchtet wurde. Hier fanden Talks, Cocktails, Techno und «Breakfast with Deskmates» statt. Mein Highlight war ein weirdes Live-DJ-Set von Pflanzen – no joke, typisch Berlin halt.
Gestärkt vom vor dem Laptop «Shrimpen» habe ich mich in den georgischen Restis rund um die Rustaveli Street. Das Nationalgericht in der «Adjarian»-Variante wurde schnell Teil meiner Heavy Rotation: Khachapuri. Sozusagen ein reversed Fondue – das Brot ist Futter und Caquelon zugleich und wird mit flüssigem Käse, Butter und Ei gefüllt. Das Beste daran: Man isst es hier morgens, mittags und abends, was meinen Käseverzehr auf ein Level jenseits von Weihnachten und Neujahr brachte.




Basecamp Tbilisi
Selling Point für Georgien war der Kaukasus. So fand ich mich in meiner freien Zeit frühmorgens irgendwo auf einem ominösen Parkplatz in einer Marshrutka (runtergewirtschafteter Minibus), wartend, bis jeder Platz gefüllt und jeder Gast einmal vom Fahrer angeschnauzt wurde, und bretterte anschliessend voll Karacho nach Swanetien, Stepanzminda oder auch nach Jerewan, der Hauptstadt Armeniens. Absolutes Highlight wurde die Viertageswanderung von Mestia nach Ushguli – vorbei an Fünftausendern, wilden Pferden, weissen Gletschern, Chacha-Pit-Stops, herzlichen Guesthouses und den charakteristischen Svan-Türmen.








Georgischer (Alb)traum
Mein Büro-Gspändli in Tiflis war Giorgi 2.0 – zweipunktnull, weil 1.0 schon besetzt war von dem Giorgi, der mich vor fünf Wochen im Kaukasus beim Wandern herbeiwankte und mit fünf Shots Chacha auftankte – und das mit nicht vorhandenem Englisch, mit Ausschluss von «good» und «new friend». Giorgi 2.0 hatte noch alle Zähne und war ebenfalls Grafiker. Eisbrecher war hier die montierte Georgien-Flagge an seinem Rucksack, welchen er jeden Morgen auf den Silent Desk «slamte». Die Flagge war immer dabei, sodass er, falls es mal spät wird im Coworking, immer noch direkt an den täglichen Protesten teilnehmen konnte.
Anfangs war ich irritiert, dass auf meinem Heimweg wieder so viele Menschen Corona-Masken, anno 2020, trugen. Masken sind hier abends wieder Pflicht – zumindest für die, welche vor das verbarrikadierte Parlamentsgebäude gehen. Die Regierung hat gelernt, dass sie die Proteste besser nicht mit offener Gewalt, sondern subtiler mit Gesichtserkennung und nachträglichen Bussgeldern oder gar Festnahmen unterdrückt.
Trotzdem versammelt sich die junge, progressive Jugend noch täglich, stellvertretend für Tausende, um gegen die pro-russische Regierungspartei Georgischer Traum, Wahlmanipulationen und die Aussetzung der EU-Beitrittsgespräche zu protestieren – und für ein «pro-europäisches» Georgien und Demokratie einzutreten.
Am 4. Oktober, dem Tag der Kommunalwahl, war es unmöglich, den Protesten aus dem Weg zu gehen. Tausende Menschen füllten das Stadtzentrum – teils mit Sturmmasken und Riot-Montur, aber auch mit Kind, Oma und einer Flagge aus dem EU-Georgien-Ukraine-Spektrum. Der Tag endete mit vielen enttäuschten Gesichter: Bei den einen waren es die manipulierten Wahlergebnisse, bei den anderen das Ausbleiben der von den Oppositionsparteien (welche die Wahlen teils boykottierten) angekündigten Revolution.
Heute ist Protesttag 337 und der letzte Tag von meinen sechs Wochen hier in Georgien. Ich sitze alleine im Coworking und schreibe spätabends meinen Journalbeitrag zu Ende. Giorgi steht bereits wieder mit seiner Flagge an der Rustaveli Avenue und ich werde mir meiner Privilegien mal wieder so richtig bewusst.






Du hast genug gelesen und sehnst dich nach mehr Bildern?


























































